Viele Sehenswürdigkeiten und zahlreiche kulturellen Ereignisse machen Wien zu einer Stadt mit besonderem Flair. Es gibt viele Orte die bei einem Stadtbesuch ein „Muss“ sind, und ohne sich diese näher anzuschauen kein Tourist nach Hause fährt. Jedoch gibt es einen kulturellen Ort, der nur schwer zu übersehen ist und ebenfalls ein absolutes "Muss" für Jedermann ist: die Wiener Staatsoper. Geschmückt mit zahlreichen Erzählungen, einer wundervollen Barockarchitektur, einem Opernmuseum und und und, ist sie zu einem wichtigen Teil des kulturellen Flairs der Stadt Wien geworden. Wer nach einem Aufenthalt in Wien die Stadt verlässt, ohne sich davon zu überzeugen wie schön und pompös dieses Gebäude ist, geht leer aus.
Bei meinem Besuch der Oper „Meisterwerke des 20. Jahrhunderts“ wurde mir die oben beschriebene Tatsache zum Anlass für eine weitere Überlegung. Nämlich dieser, wie sich die Interkulturalität der Zuschauer der Wiener Staatsoper auf den Gesamteindruck von z.B. einem Ballettbesuch auswirkt.
Meine Loge hatte sich als sehr international ergeben. Es saßen eine Engländerin, ein französisch sprechender junger Mann, eine Mutter mit ihrem Sohn, die aus Russland anreisten und ich mit meiner Mutter in einem Raum. Die letzten stammen aus der Ukraine. Die zwei erstgenannten Zuschauer pflegten einen guten Ton. Anders jedoch zeigten sich Mutter und Sohn: Von ihrer Kleidung, ihrem Benehmen bis hin zur Sprache. Sie verhielten und gaben sich Elefanten im Porzellanladen. Ist denn in Russland ein Theaterbesuch kein kulturelles oder gesellschaftliches Ereignis des höchsten Niveaus?
Weg von dem Vorwort, zurück zum Ballett. „Meisterwerke des 20. Jahrhunderts“ ist ein Werk, das für jeden - unabhängig davon welche Sprache er oder sie spricht - verstanden werden kann.
Das Ballett ist ein Sammelwerk von drei Künstlern: „Suite en blanc“ (Choreographie von Serge Lifar), „Before Nightfall“ (Choreographie von Nils Christe) und „L´arlésienne“ (Choreographie von Roland Petit). Ersterer von drei größten Meistern des vorigen Jahrhunderts, Serge Lifar, ist gebürtiger Ukrainer. Dies kommt trotz meiner Erwartung zumindest, in diesem von mir angesehenen Stück, nicht zum Ausdruck. Seine Phantasie zur Musik von Edouard Lalo erwies sich als ein neoklassisches Werk, sowohl in der Choreographie, als auch in der Kostümbildung.
Das Stück „Before Nightfall“, choreographiert von Nils Christe, bewegte mit - es ähnelte einer Improvisation eines annäherndem Solospiels - dem Klavier, das in dem dritten Teil dieser Hommage an moderne Kunst nicht anwesend war.
Im dritten Stück, "L´arlésienne" verdeckt der Hochzeitsschleier von Vivette ihre Liebesgeschichte von dem neugierigen Zuschauer nicht. Die sprachlichen Unterschiede wurden nicht zum Hindernis dazu, das Hauptthema des Ballettstückes zu verstehen. Dass Fédéri, nachdem Vivette sich ihm körperlich hingegeben hat, auf einmal Interesse an ihr verliert und versucht, sich von ihr zu verstecken, konnten sowohl meine Mutter, als auch die Mutter mit dem Sohn aus Russland gleich nachvollziehen. Die Handlung erzählt außerdem von einem Verbot, einer Liebe zu einer Frau die sich dem Mann hingeben würde, welches die Gesellschaft ihr jedoch nicht erlaubte. In der Folge wurde das erlaubt, was man nicht dürfte und das war somit für Fédéri nicht mehr so verlockend. Verbotenes macht bekanntlich heiß. Die Frage ist nun: Warum ein Mann keuschen wird, nachdem es ihm die Gesellschaft erlaubt hat mit einer Frau Sex zu haben? Liegt es daran, dass die Frau keine Sehnsucht nach Sex hat und ihn nur als zu einer Beziehung dazugehörig sieht? Warum entscheidet die Gesellschaft über die Sexualität jedes einzelnen? Warum wird einer Frau/einem Mann diktiert, mit wem er zu schlafen hat und mit wem nicht? Und hat dann womöglich diese von außen „regulierte“ Sexualität, die in der Folge zu einer Unterdrückung einer Frau wird, die befriedigt werden will, zu dem Mörder der Sexualität überhaupt? Ist es dann gerecht diese Sexualität auf Berührungen, Seufzen und heimliches Küssen vor der Türe und den romantischen Abendessen begleitet von Kerzenlicht zu eliminieren? Welches Recht hat die Gesellschaft darauf? Meine Mutter meinte dann, dass die Frau dem Mann - nachdem er sie abgewiesen hat - nachgelaufen ist, um ihn wieder zurück zu holen. Ist eine Situation, in der eine Frau dem Mann nachläuft und ist eine Situation, in der ein Mann den Wunsch einer Frau ihre Lust zu befriedigen, abzuweisen, eine natürliche?
Was in einem Ballett für das Auge eine große Bedeutung hat sind die Kostüme. Diese sind bei den Frauen eher standard und für unsere moderne Zeit meist viel zu klassisch, jedoch mit einigen traditionellen Abweichungen. Die Kostüme der Männer machen ihre Körperbetonung - und vor allem die Betonung der bestimmten gewölbten Körperpartien - für eine weibliche Zuschauerin sehr verlockend. Die Kargheit des Bühnenbildes in allen drei Stücken erwies sich als gut gelungen im Angesicht davon, dass dadurch die wahre Kunst des Balletts klar und deutlich auf der Bühne zum Ausdruck kommt.
Auch das Prachtstück Staatsoper erweist einige Fehlschüsse: Die Sitze in der Logge sind zwar bequem und man fühlt sich wie eine persona non grata, wenn man aber die Jacke auf den Hacken der Garderobe vor der Logge aufhängt und sich auf einem etwas erhöhtem, mit rotem Stoff bedeckten Sitz niedersetzt, geht der wichtigste Teil des Ballettbesuches verloren. Von der Bühne, und somit von der Aufführung, sieht man nur noch Bruchteile.
Ein voller, jedoch nicht ausverkaufter Saal, sehr lebendiger Beifall, das Solospiel des Klaviers, aufregende Musik und Genauigkeit und Stil des Balletts sind die wenige Sachen, die nach dem Besuch von „Meisterwerke des 20. Jahrhunderts“ im Kopf bleiben.
Varvara Shcherbak