Philipp Kochheim inszenierte, basierend auf dem Roman „Ragtime“ von E.L. Doctorow, ein Musical, das die hektische Zeit im New York des 20. Jahrhunderts, wo die Suche nach dem American Dream und der Gerechtigkeit aufeinander treffen, auf die Bühne der Grazer Oper bringt.
Der Traum vom Wohlstand
Der American Dream, ein Traum von einem höheren Lebensstandard, den jeder Mensch nur durch harte Arbeit sowie unabhängig von seinem derzeitigen Wohlstand erreichen kann („vom Tellerwäscher zum Millionär“), spielt im „Ragtime“ eine der zentralen Rollen. Nicht jeder kann diesen allerdings ausleben. Während Sarah (stimmgewaltig von Dionne Wudu gespielt) und Coalhouse Walker jr. (Alvin Le-Bass) singen:
“Any man can get where he wants to
If he´s got some fire in his soul.”
(Jeder kann das erlangen, was er will, sofern er genug Feuer in seiner Seele hat),
wird der Aufstieg von Coalhouse Walker jr. als eines Schwarzen von den weißen Bürgern mit Widerstand aufgenommen. Dabei lebt Coalhouse Walker jr. den American Dream mehr für sich als für seinen Sohn, denn materielle Sachen (sein neues Ford Auto) sind für ihn wichtiger als das Schicksal seines Sohnes, der nach dem Tod seiner Mutter und eines bewaffneten Wiederstandes seines Vaters ein Waise wird.
Tateh, ein Immigrant jüdischer Abstammung, der nach Amerika gekommen ist, um seiner Tochter, deren Mutter im Kindbett gestorben ist, ein besseres Leben zu bieten, lebt den American Dream für diese. Von einem mittellosen Silhouettenkünstler, der mit seiner Kunst das Leben für sich und seine Tochter in Amerika aufbauen wollte, wurde er zu einem Regisseur des ersten stummen Kinos. Seine Tochter, die vor Kälte zitterte, Würmer aus dem Mülleimer als einzige Nahrung hatte und dadurch viel zu oft krank war, war sein „Wheels of a Dream“ (Traum Räder).
“I'm not a Baron, of course. I'm a poor immigrant, a Jew,
who points a camera so that his child can dress as beautifully
as a princess. I want to drive from her memory every tenement
stench and filthy immigrant street. I will buy her light and
sun and clean wind of the ocean for the rest of her life…”
(„Natürlich bin ich kein Baron. Ich bin ein mittelloser Immigrant, ein Jude, der seine Kamera so ausrichtet, dass sein Kind sich so schön wie eine Prinzessin anziehen kann. Ich will ihr die Erinnerung an den Mietshausgestank und schmutzige Straßen, wo Immigranten wohnen, wegnehmen. Ich kaufe ihr Licht und Sonne und bereinige den Wind vom Ozean für sie für den Rest ihres Lebens.“)
(Aus dem Lied „Our children“)
Dadurch wird Tateh auch zur einzigen richtigen „Mutter“ im Musical, der das Schicksal ihres Kindes am nächsten liegt und die weiß, dass es dem Kind nur bei der Mutter gut gehen kann.
Die Mutter (überzeugend und stimmgewaltig von Monika Staszak gespielt) lebt den American Dream und Muttergefühle für das Kind von Sarah und Coalhouse Walker jr.. Ein mütterlicher Instinkt einem fremden Kind gegenüber, der dazu noch gesellschaftlich verhasst und vernachlässigt wird, der in dem Herzen ihres Ehemannes kein Verständnis findet. Als der Vater zu ihr vorwurfsvoll sagt, sie mache zu viel für dieses Kind, erwidert diese zornig „Niemand wird für dieses Kind jemals genug tun.“, was sie wohl dazu zu bewegen scheint, ihre Güte noch zu steigern.
Eine Figur, die im Stück nur am Rande vorkommt, deren American Dream allerdings am stärksten zum Ausdruck kommt und gelebt wird, ist die historische Figur von Booker T. Washington, der einen Aufstieg von einem Sklaven zu einem ersten Schwarzen mit einem Ehrenmaster von Harvard feiert. Sein Zorn über Coalhouse Walker jr., der den falschen Weg der Gewalt eingeschlagen hat und somit alles, was Washington bis dahin an Anerkennung geschafft hat, kaputt macht, ist verständlich. Bildung wird in Amerika als ein Weg verstanden dem Klassenunterschied auszuweichen. Nichtdestotrotz wird ebenfalls betont, dass es oft eine klare Aufteilung in Schichten gibt, denen zu entkommen beinahe unmöglich ist.
„Die Schicht kann formen, fesseln, hat Einfluss auf Wissen, Glauben, Eigenschaften, Motivation und Charakter.“ (Aries und Seider 2007: 138)
Heute kennt man diese als Bewohner des Schwarzen Blocks, auf die die amerikanischen Polizisten aus Angst oft ohne jede Vorwarnung schießen. Auch abseits von Amerika ist das Klassensystem nach wie vor am Kochen. Das Thema ist also mit dem Aussterben von Ragtime (das Wort lässt sich als „zerrissene Zeit“ übersetzen) nicht ausgelebt.
Der Traum von Gerechtigkeit
Den Grundgedanken des American Dream findet man in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung. Die amerikanische Verfassung sichert den Bürgern unveräußerliche Grundrechte zu, insbesondere das Recht auf Widerstand gegen die Regierung.
Im Musical „Ragtime“ spürt man genug Widerstand: Widerstand gegen die Regierung, gegen die herrschenden Arbeitsbedingungen, die sich vor allem gegen die Migranten richten. Widerstand gibt es genug. Was einem fehlt, ist der Gefühl des Grundrechtes auf Gerechtigkeit. Emma Goldman (brillant von Katja Berg verkörpert) ist eine Widerstandskämpferin, die aus ihrem Grundrecht auf Widerstand einen Widerstand ihr gegenüber erfährt: sie wird des Landes verwiesen, ihres Landes.
Der weiße Mann, der Vater, der wohl an das Grundrecht auf Gerechtigkeit und gerechtes Verfahren glaubte, ihm gleicht der Sozialreformer und Bürgerrechtler Booker T. Washington, ein Vorbild für Coalhouse Walker jr., staunten nicht schlecht, als der Letztere trotz allerseitiger Versprechen auf ein gerechtes Verfahren (demzufolge er ein Beispiel für sein Sohn sein sollte) von der Regierung kaltblütig, während er mit erhobenen Händen die von ihm okkupierte American Library verlassen hat, erschossen wurde. Welches Beispiel nimmt sein Sohn wohl aus dieser Erfahrung mit. Der Traum von Gerechtigkeit stirbt wohl gemeinsam mit dem American Dream.
Typisch untypische amerikanische bürgerliche Familie und Frauenrolle
Mutter und Vater, die beide in „Ragtime“ namenlos bleiben, und der Bub, der im Musical Edgar genannt wird, stehen wohl mit ihren Sammelbegriffen für eine typische amerikanische bürgerliche Familie. Eine klare Trennung zwischen Berufs- und Erwerbssphäre, der sich der Vater widmet, und Haushalts- und Familiensphäre (was auch die Aussage des Buben gegenüber der Mutter bestätigt: „Vater sagt, eine Frau gehört in den Haushalt“), wo die Frauen hingehören, findet man auch im Musical „Ragtime“ vor. Untypisch wird sie dadurch, dass die Mutter scheinbar mehr zu sagen hat als der Vater und alles, was die Mutter aufführt, wird vom Vater zwar mit Widerrede, schließlich allerdings akzeptiert. Eine starke Natur spielt auch die Mutter, die es nicht scheut, dem Sohn die Augen auf die Welt zu öffnen. Während der Vater, anstatt dem Sohn zu erklären, warum er Coalhouse Walker jr. verraten hat, ihn lieber mit dem Baseballmatch abzulenken versucht.
Frauen spielen, auch wenn diese gesellschaftlich zu den damaligen Zeiten noch lang unterdrückt wurden, im Musical „Ragtime“ eine zentrale Rolle. Nicht zuletzt versucht Sarah den Präsidenten zu sprechen, um sich für die Anerkennung der Schwarzen einzusetzen. Das Lied, das gesungen wird, als sie erschossen wird, zeigt unmissverständlich, welche Stellung sie in der damaligen Gesell
schaft spielte: „She was nothing to them. She was a woman“. (Sie hatte für sie keine Bedeutung. Sie war eine Frau.)
Auch wenn Männern die Berufs- und Erwerbssphäre zugesprochen wurde, übernimmt die Mutter die wichtigen Aufgaben im Haus, solange ihr Mann beruflich unterwegs ist. Auf Aussage ihres Sohnes „Vater sagt, eine Frau gehört in den Haushalt“ antwortet sie, „wenn er so glaubt, hätte er zuhause bleiben sollen.“
Als Tateh die Mutter fragt, ob sie einen Mann für einen anderen verlassen würde, antwortet sie, wenn er sie entscheiden lassen würde, dann schon. Diese Aussage löst einen Beifall und einen lauten Ausruf eines Zuschauers im Publikum aus. Ein Thema, das wohl auch noch im 21. Jahrhundert seinen Platz hat.
Das Musical „Ragtime“ ist gefüllt mit Themen, Schicksalen und verschiedenen Sichtweisen. Ein stimmgewaltiger Abend mit Musik von Stephen Flaherty unter der musikalischen Leitung von Robin Engelen mit einer bestens gelungenen Besetzung bringt zum Nachdenken und lässt jeden seine eigene Geschichte im bunten Treiben entdecken.
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Fotos: Werner Kmetitsch