Alles fängt mit einem Vater an, der seine knapp 18-jährige Tochter heranwachsen sieht und ahnt, dass diese der Versuchung und der Sehnsucht nicht entkommen kann und früher oder später einen Mann kennenlernt. „Denn was soll der Vater tun dagegen, wenn das Weib in seinem Kind erwacht?“ (aus dem Lied „Eine Schöne Tochter ist ein Segen“).
„Der Gedanke,
dass ein geiler Lüstling sie befingert,
weckt das Tier in mir.
Drum, bevor sie so ein Wüstling küsst,
schwing ich den Hammer
und blockier die Tür.“
Je mehr Widerstand der Vater Sarahs leistet, je mehr er sie einsperrt und sie somit vor ihren Lüsten zu beschützen glaubt, desto mehr Drang hat die junge Frau, dem zu entfliehen. Auch der junge Student Alfred, der ihr seine Liebe gesteht, genügt ihr nicht. So sehnt sie sich nach mehr und nimmt daher die Einladung des Grafen von Krolock an, der ihr die Freiheit, das Entfliehen „in den Rausch der Phantasie“ und den Ort, wo sie vor Sünde und Gefahr nicht mehr gewarnt werden muss, verspricht.
Folg mir nach, vertrau der Nacht!
Sie nur kann deine Seele retten.
Fluch dem Tag und seiner Macht!
Lös die Sehnsucht von allen Ketten.
Folg mir nach, komm, fühl die Nacht!
Wirklich ist nur, woran wir glauben.
Flieh vor dem, was dich bewacht.
Lass dir nicht deine Träume rauben.
(Aus dem Lied „Carpe Noctem“)
Der Vater von Sarah folgt ihr in den Wald, um sie vor den Gefahren zu retten, und findet seine eigene Freiheit – er wird von den Vampiren gebissen und verwandelt sich selbst in einen Vampir. Jetzt, wo er faktisch unter den Toten ist, hat er keine ehelichen Verpflichtungen mehr und verwandelt Magda, eine junge Magd, die er mag, ebenfalls in einen Vampir. Magda, die sich im Leben gegen die Annäherungsversuche von Chagal (brillant von Nicolas Tenerani gespielt) wehrte, findet ihn als Vampir auf einmal anziehend.
Der scheue und nette Alfred wird im Kampf um Sarah, um ihre Liebe und Zuneigung, immer mehr ein Mann.
„Ich bin ruhig, ich bin kalt.
Ich besiege mich selber
deinetwegen,
Sarah.
Ich weich keiner Gewalt.“
(Aus dem Lied „Für Sarah“)
Doch Sarah will nicht von ihm gerettet werden, sie will den Weg gehen, den sie für sich ausgesucht hat.
Das ewige Thema des Frauseins kulminiert auch im Musical „Tanz der Vampire“, auch wenn das Frausein symbolisch vom Biss untermauert ist. Das Frausein wird hier mit Verantwortung tragen für eigene Entscheidungen, eigenes Leben gleichgesetzt. Gleichzeitig bedeutet der Biss, die Inkarnation zu einem Vampir, die Freiheit, die den Weg frei macht, eigenen Sehnsüchten, Träumen, Wünschen nachzugehen und nicht mit den Handschellen gesellschaftlicher Erwartungen, Wunschvorstellungen gebunden zu sein. Nur eines darf man nicht aus dem Blick verlieren – auch ein Vampir ist nie vollkommen frei. Zuletzt herrscht der Hunger auf immer und ewig über ihn, der unstillbar ist. Insofern stellt sich die Freiheit als ein Sehnsuchtsort dar, den es nicht gibt, denn die Verpflichtungen, Verantwortungen finden uns überall.
„Getrieben von Träumen und hungrig nach Glück…
Wir sind zum ewigen Leben verflucht…
Was ich rette, geht zugrund,
was ich segne, muss verderben,
nur mein Gift macht dich gesund,
um zu leben, musst du sterben.“
(Aus dem Lied „Gott ist Tod“, Graf von Krolock)
Sarah wird zum Symbol einer jungen Frau, die vor einer Entscheidung steht: soll sie sich den gesellschaftlichen Zwängen fügen, sich einsperren lassen, oder doch den Weg der Freiheit, den sie sich freiwillig aussucht, wählen. Die Botschaft der Produktion ist ebenfalls, dass eine junge Frau sich nach einem älteren Mann sehnt, wie Mark Seibert, einer der Darsteller von Graf von Krolock, in einem Interview erklärt: „…sich ein junges Mädchen nach dem älteren Vampir sehnt und nicht mit dem jungen Alfred durchbrennen will.“
Manchmal in der Nacht
kann ich es nicht mehr erwarten,
ich will endlich eine Frau sein und frei.
(Aus dem Lied „Totale Finsternis“)
So geht sie freiwillig zum Grafen von Krolock und hält ihm selbstbewusst ihren Hals hin, damit er sie zum Vampir macht. Der schöne Schein trügt, denn tatsächlich will Sarah nur dem realen Leben entkommen. Sie taucht in die Welt der Phantasien, der Träume, der Wünsche, der Sehnsüchte, die nur zum Teil und nur vermeintlich wahr werden. In eine Welt, wo keine Verantwortung herrscht, wo es egal ist, was aus der Welt wird. Nichtdestotrotz stellt sie sich den Konsequenzen ihrer Entscheidung.
Das Musical kulminiert im Sieg der Vampire, die sich nicht mehr verstecken wollen, sondern endlich sich bekannt machen und sich durchsetzen, egal was passiert. Etwas pointiert, zeigen deren Methoden, wie man vorankommt und Erfolg hat.
Nimm, was du kriegst,
denn sonst wird dir genommen.
Sei ein Schwein,
oder man macht dich zur Sau.
Raff dir Geld
Und kauf dir die Welt!
Zeig deine Faust,
denn sonst wirst du geschlagen.
Dräng dich vor
Oder du wirst übersehen.
Willst du bestimmen,
statt andre zu fragen,
mußt du lernen
über Leichen zu gehen.
Das Musical „Tanz der Vampire“ zieht mit seiner rockigen, dramatischen Musik von Jim Steinman, die unter die Haut geht, und einer überwältigen Bühnendekoration von Kentaur in seinen Bann. Man fühlt sich verwickelt in die Geschehnisse, fürchtet, es könnte hinten ein Vampir mit seinen scharfen Zähnen auf einen zukommen. Eine Standing Ovation haben sich die Darsteller zurecht verdient, denn man konnte sie mit den Figuren verschmelzen sehen. Verstärkt wurde diese Wirkung durch die unsichtbaren Hände hinter den Kulissen (Lichtsdesign von Hugh Vanstone, Lichtprogrammierung von Chris Hirst u.a.), die die Darstellung noch gewaltiger und eindrucksvoller machten. Besonders beeindruckt hat die gewaltige Stimme von Thomas Borchert (Graf von Krolock), die genial witzige Verkörperung von Professor Abronsius durch Sebastian Brandmeier und die starke Stimme von Marle Martens (Magda).
Das Musical selbst befreit sich von den gewöhnlichen Bahnen der herkömmlichen Musicalproduktionen. Rein nach dem Lied der Toten Hosen "Kein Happyend, kein Hollywood, Alles passiert, wie es passieren muss". Genau das macht „Tanz der Vampire“ für Millionen von Zuschauern weltweit so unschlagbar.
vs
Fotos: VBW/ Bock Bauer
Brinkhoff Mögenburg
Titelbild: Nathalie Bauer (Drew Sarich und Marjan Shaki)