Selbstbild und Fremdbild, Definition des eigenen Selbst durch den/die anderen sowie die immerwährende Anwesenheit eines Inquisitors, sei dieser in der Person eines Inquisitors selbst oder einer 18-jährigen jungen Frau, stellt der Regisseur Paul Esterhazy in zwei Werken „Der Zwerg“ und „Der Gefangene“ geschickt zusammen dar. Während „Der Zwerg“ großen Beifall erntete, war „Der Gefangene“ nicht zuletzt aufgrund seiner Sprache (italienischer Gesang mit deutschen Übertiteln), sondern umso mehr wegen seiner geschichtlichen Hintergründe weniger nachvollziehbar. Nichtdestotrotz ist die Botschaft angekommen.
„Der Zwerg“, der nach dem Märchen von Oscar Wilde „Der Geburtstag der Infantin“ entstanden ist, hat eine Parallele zu seinem früheren Werk „Das Bildnis des Dorian Gray“. Während Dorian Grays Verliebtheit in sich selbst zu seinem Verhängnis wird, wird hier die Verliebtheit der Infantin samt ihrem Gefolge sowie deren Überzeugung ihrer Unentbehrlichkeit dem Zwerg zum Verhängnis, dessen offene und ehrliche Absichten verspottet und ausgelacht werden.
Der Anlass für die Entstehung des Märchens war das Gemälde „Las Meninas“ des spanischen Malers Diego Velázguez, auf dem die spanische Infantin Magarita mit ihrem Gefolge, darunter eine Zwergin, abgebildet ist.
„Spieglein, Spieglein an der Wand… ich bin die/der Schönste in diesem Land“
Das Selbstbild und das Fremdbild sind ständige Begleiter jeder Gesellschaft in allen Zeiten. Das gesellschaftliche Ideal bestimmt über unser Sein und unsere gesellschaftliche Stellung. Jeder, der aus dem Muster ausbricht, wird ausgelacht, ist ein Außenseiter und kann sich schwer anpassen. So der Zwerg (brillant von Ales Briscein gespielt), dem das Schicksal der Ungewissheit über sein Äußeres zum Verhängnis wird. Ein Blinder, der sich selbst als einen edlen Ritter sieht und das Lächeln bei seinem Anblick allerseits als eine Bestätigung seines edlen Auftretens sieht, würde man sagen. Das Bild vom Zwerg, das in der Oper von Alexander Zemlinsky mit dem Libretto von Georg C. Klaren dargestellt wird, entspricht im Großen und Ganzen den damaligen Vorstellungen über diesen angeborenen gesundheitlichen Zustand. Als Tier, als Spielzeug wird der Zwerg am Hofe der Infantin Donna Clara (Tatjana Miyus) gesehen. Während Donna Clara ihn für seine Liebesbekenntnisse verspottet, stellt er sich sehr männlich dar. Er will ihr treuer Gefolge sein, der sie vor allem Bösen bewacht und sie vor Gefahren schützt. Darin sieht er seine Berufung, nicht in dem, dass er sie heiratet und mit ihr ein Eheleben führt. Dabei macht ihm Donna Clara ihre Sicht auf die Rolle eines Mannes weis: er soll mit ihr tanzen, ihre lange Robe tragen. Das Herz des Zwerges zerbricht nicht am Anblick seines Antlitzes, sondern an dem Spiel, das die Gesellschaft mit ihm spielt. Die Unehrlichkeit und Hinterlist vor allem von Donna Clara, die ihm eine weiße Rose schenkt und mit ihm tanzt, während sie ihn hinter seinem Rücken verspottet, brechen sein Herz und sein Vertrauen in die Menschheit erlischt. Dabei ist der Zwerg der Einzige, der mit sich selbst im Reinen ist, während der Rest in einem Dilemma lebt. Sehr markant ist die Umsetzung durch die grauen Kostüme (Mathis Neidhardt), bei den Frauen mit Rock, bei den Männern mit Hose, wobei die Darsteller einander äußerlich gleichen, und gleichzeitig jeder seine Macken hat. Extrem wurden die Macken durch diverse Nervenerkrankungen (Nerventick an der Schulter, andauerndes Kratzen, Verfolgungswahn, Trink- und Rauchsucht) dargestellt.
Auch Don Estoban, in einer brillanten Besetzung durch Wilfried Zelinka, gibt seine Bosheit kund als er den Zwerg bewusst zu einer Lachnummer macht, während der Zwerg ihm gegenüber männlich auftritt: „Sie sagen es mir nur, weil ihr Bruder die Infantin mag. Lasst uns duellieren!“
Die Freiheit lebt in der Hoffnung
Nach der Pause ist das Bühnenbild von Mathis Neidhardt aus einem Bilderrahmen in Menschengröße und bedrückenden schwarzen Wänden unberührt geblieben, nur das große Bild der Infantin wurde durch den großen Inquisitor (wie ich es von meinem Sitznachbarn erfahre) ausgetauscht. Statt erwachsenen weiblichen Darstellerinnen stellen sich Kinder hinter die mitgebrachten Stühle links und rechts an die Wand und kratzen sich, niesen ununterbrochen, machen wiederholte Bewegungen, ganz wie die Gefolgen von Donna Clara aus dem „Zwerg“. Wie der Zwerg, gefangen in seiner Einbildung, er kommt bei den Menschen gut an, so ist der Gefangene (Markus Butter) in seiner Zelle gefangen und hofft auf eine Erlösung. Die Freiheitsberaubung und das Spiel der anderen, denen die Freiheit offen steht, werden in „Der Gefangene“ dargestellt. Wenn ein Leben so leicht und schnell beendet werden kann, gibt es dann noch überhaupt einen Sinn zu leben, die Folter, das Unglück, die Liebe und das Glück zu erfahren? Welche Seite der Waage überwiegt? Wohl Fragen, mit denen sich schon die größten Philosophen beschäftigt haben.
Schwierigkeiten macht die sehr freie Darstellung, die den Inhalt der Darstellung nicht komplett nachvollziehen lässt, sowie die italienische Sprache. Denn beim ständigen Nachsehen auf die Übertitel verpasst man die sich rasch abwechselnden Geschehnisse auf der Bühne.
Eine sehr gewagte Verbindung der Oper von Alexander Zemlinsky und des Prologs und der Oper von Luigi Dallapiccola, zwischen deren Werken knapp 30 Jahre liegen und deren Graben in der menschlichen Seele beide allgegenwärtig macht.
VS
Fotos: Werner Kmetitsch