"An verblendeter Mutterliebe sind mehr Menschen zugrunde gegangen als an der gefährlichsten Kinderkrankheit", sagte Otto von Leixner, ein Schriftsteller schon vor über einem Jahrhundert. Gerade von Geburt an benachteiligte Kinder leiden oft unter dem fast zwanghaften Bedürfnis der Mutter, sich um sie besonders zu sorgen, indem sie ihnen alles abnehmen, keine Grenzen setzen und sie vor jeder noch so kleinen Belastung, Gefahr oder Anstrengung beschützen. Damit verhindern sie nicht nur, dass ihr Kind im möglichen Rahmen eine gewisse Eigenständigkeit erlernt, sondern nehmen dem Kind auch die Chance, auf seine Art und Weise erwachsen zu werden.
Felix P. wurde als drittes Kind der Familie P. geboren. Die Ehe der Eltern war schon zuvor zerrüttet, weshalb es die Mutter vom 6. bis zum 9. Schwangerschaftsmonat nicht verhindern konnte, dass dieser Schwangerschaftsstress auf den Embryo in ihr durchschlug. Die Stresshormone gerieten in eine Imbalance mit dem Lebenshormon Testosteron. Noch im Mutterleib litt der Muskelaufbau und die Entwicklung seiner Sexualorgane darunter. Felix P. konnte sich nicht mehr aus der Steißlage drehen. Seinem Hodenhochstand wurde anfänglich keine große Bedeutung beigemessen, nicht zu übergehen war indes von Geburt an seine Muskel- und Trinkschwäche. Diese Muskelhypotonie geht zurück auf einen Mangel an Muskelstärke und Muskelspannung in der quergestreiften Muskulatur. Das problematische Baby wurde sofort nach der Geburt von der Mutter getrennt – aus Sicht der heutigen Medizin ein schwerer Fehler – und aus dem privaten Geburtssanatorium auf die Kinderklinik des LKH gebracht. In weiterer Folge bewegte sich Felix P. auffallend wenig und konnte auch den Kopf zum Stillen nicht heben. Er musste als Säugling künstlich ernährt werden. Durch dieses Nicht-Stillen kam er nicht in Berührung mit dem Schweiß der Mutter und atmete auch kein Testosteron oder andere Hormone aus dem mütterlichen Schweiß ein. Wegen der Ernährung durch Magensonden konnte er weder ein natürliches Hunger- noch Sättigungsgefühl entwickeln. Nach dem ersten Jahr war aus dem trinkschwachen Baby ein heißhungriges Kleinkind geworden, das scheinbar unbegrenzt Essen in sich hineinstopfen konnte. In seiner geistigen, motorischen und sprachlichen Entwicklung blieb er erschreckend deutlich zurück. Nach 3 Jahren und unzähligen Untersuchungen wurde der genetische Defekt einer Chromosomenschädigung und in Folge ein Prader-Willi-Syndrom diagnostiziert. Der üblicherweise angewandte Hormonspray wurde nicht bzw. nicht ausreichend eingesetzt, denn die Hoden hatten sich nicht gesenkt. Dabei ist generell zu sagen, dass sogar heutige Hormonsprays diesem Defizit nur begrenzt abhelfen können.
Hinterlistige Feigheit vor Hodenoperation
Als wirksame Maßnahme sollte der Hodenhochstand im 2. Lebensjahr wenn nötig mit einer Operation behandelt werden. Doch die für seine weitere Entwicklung entscheidende Hodenoperation wurde von der Mutter blockiert. Obwohl ihr die Ärzte dringend dazu rieten, erschien sie nie zu den geplanten Operationsterminen. Bei der Operation hätte es sich ohnehin um einen Routineeingriff gehandelt, dennoch begründete die Mutter später ihre falsche Entscheidung damit, Angst um das Leben ihres Sohnes gehabt zu haben. Der wahre Grund lag wohl eher in der Angst davor, Felix P. könnte doch mehr Eigenständigkeit entwickeln, sein Zustand sich derart verbessern, dass er zumindest innerhalb eines gewissen Rahmens ein selbstständiges Leben führen könnte. Damit würde sie auch ihren neuen Zeitvertreib verlieren, der sie vor einem endgültigen Ausbruch ihrer eigenen psychischen Krankheit bewahrte. Sogar hormonelle Therapien blockierte sie.
Dieses "Sorgen" um das kranke Kind wuchs sich bei der Mutter in der Zwischenzeit zu einer Lebensaufgabe aus, insbesondere nach der Trennung vom Vater von Felix P. Ihr ganzes Tun konzentrierte sich darauf, den vermeintlich schwerkranken Buben zu pflegen. Die übermäßige Fürsorge brachte dem „Pflegling“ auf lange Sicht jedoch mehr Schaden als Nutzen. Der Mutter ist bei ihrem Handeln gewiss keine böse Absicht zu unterstellen, vielmehr ist sie selbst in ihrer Rolle als Verantwortliche für ihr „nichtfunktionierendes“ Kind durch gesellschaftliche und persönliche Zwänge dazu getrieben worden – in der fixen Meinung das Beste und das einzig Richtige zu wollen und zu tun. Gleichviel, in diesem Umfeld konnte sich Felix P. in Sicherheit wiegen, dass alles für ihn getan wurde, solange er nur kräftig genug brüllte oder sich auf andere störrische Weise gebärdete. Erschwert durch die angeborene Sprach- und Ausdrucksstörung, gab er teils nur unverständliche Laute von sich. Felix P. lernte seine Krankheit als Waffe einzusetzen, um das zu erreichen, was er wollte. Obwohl körperlich in der Lage, übernahm er im Haushalt keine Aufgaben, er musste sich nicht selbst waschen oder anziehen. Kurzum: Die Mutter trachtete danach, Felix P. möglichst klein zu halten und dieser genoss und forderte es. Für jegliches Fehlverhalten wurde seine Behinderung als Entschuldigung herangezogen. Die Mutter schickte ihn in eine Integrationsschule, wo er auch von seinen Mitschülern dementsprechend behandelt wurde. Ganz im Sinne der Integration wurde er von Lehrern und Mitschülern mit Samthandschuhen angefasst. Entweder wurde er aufgrund seiner Behinderung gehänselt oder bemuttert. Allein der Vater bemühte sich bei den wenigen Gelegenheiten, die er hatte, seinem dritten von fünf Kindern ein bisschen Eigenständigkeit zu ermöglichen und es zu fördern. Dennoch konnte Felix P. im Alter von 18 Jahren noch nicht richtig mit Messer und Gabel essen.
Nach seinem 18. Geburtstag drängte es Felix P. nun aber doch in ein eigenständiges Leben. Die monatlichen Unterhaltszahlungen seines Vaters gingen nun direkt an ihn und er ging sogar einer regelmäßigen Arbeit nach, indem er in einem Antiquitätengeschäft Ketten auffädelte und kunsthandwerkliche Gegenstände aus Silber polierte. Die Mutter war entsetzt über die unerwartete, plötzliche Aufmüpfigkeit ihres Sohnes und beantragte aus der Angst, die Kontrolle zu verlieren, die Besachwalterung ihres Sohnes. Dabei nahm sie wissend oder unwissend in Kauf, dass es zu einer weiteren Schädigung kommen würde, wenn der Sohn nicht flügge werden würde.
Die angebliche "Fürsorge" der Mutter gipfelte später in dem Versuch, Felix P. unter dem Vorwand einiger Untersuchungen ins Krankenhaus zu locken, wo ihm in Wahrheit die Hoden entfernt werden sollten. Eine Pervertierung der Fürsorge, die eigentlich auf die ganz andere Operation ausgerichtet hätte sein müssen, nämlich seine Hoden aus der Leiste in den Hodensack zu bringen und sie damit zu retten und funktionsfähig zu machen. Die Begründung der Ärzte für die Totalentfernung war ebenso simpel wie erschreckend: Es bestünde eventuell die Möglichkeit, dass die kaum entwickelten Hoden zu einem Krebs entarten. Als Zurückgebliebener brauche er diese sowieso nicht und man wolle auch nicht, dass sich ein Mensch mit einem genetischen Defekt unter Umständen sogar noch fortpflanze. Als Felix P. von seiner anstehenden Kastration erfuhr, wehrte er sich dagegen. Er wollte sich der Mutter entziehen und zu seinem Vater umziehen, wo ihm sogar eine eigene Wohnung zur Verfügung gestanden ist. Die Mutter verbot ihm dieses Aufkeimen zu einer eigenständigen Persönlichkeit jedoch. Dagegen rebellierte Felix P. wiederum, indem er durch maßloses Essen rapide zunahm. Die Mutter schob die Schuld von sich, da sie den Grund für die Gewichtszunahme in den monatlichen Zuwendungen des Vaters sah, um welche sich der gemeinsame Sohn nur Essen kaufe.
Der großjährige Felix P. setzte sich dennoch durch, zog gegen den Willen seiner Mutter zu seinem Vater, in eine eigene Wohnung, und bat Dr. med. Julia Rüsch und ihr Team ihm zu helfen. Das Ziel war, Felix P. ein, bis auf gewisse Einschränkungen, eigenständiges Leben zu ermöglichen. Nach 8 Monaten fühlte sich Felix P. so erstarkt, dass er vom väterlichen Haus weg nach Wien zog.
Abspecken für die Hodenoperation
In erster Linie war es notwendig, ihn körperlich auf die dringend notwendige Hodenoperation vorzubereiten. Auch die soziale Kompetenz und die Verhaltensweisen des frischgebackenen Erwachsenen mussten in die richtigen Bahnen gelenkt werden. Bei einem Gewicht von über 100 Kilogramm, einer Körpergröße von kaum mehr als 150 Zentimetern und seiner angeborenen Muskelschwäche war ein aktives Bewegungsprogramm nicht möglich, daher wurde mit passiven Übungen an Bewegungsapparaten begonnen. Felix P. wurde rund um die Uhr von seinen Trainern betreut. Die Betreuung beschränkte sich jedoch auf die Kontrolle seines Essverhaltens und die Durchführung seines Trainingsplans. In allen anderen Dingen war Felix P. zur Selbstständigkeit angehalten. Er erledigte Besorgungen und arbeitete wieder im Antiquitätengeschäft. Daneben besuchte er eifrig Museen und Ausstellungen und horchte sogar im Parlament interessiert zu, als Ex-Kanzler Gusenbauer seine Abschiedsrede hielt.
Als er begann abzunehmen, fanden die ersten Voruntersuchungen für die Operation statt. Ein Rückschlag trat ein, als sich herausstellte, dass Felix P. offenbar nur einen, noch dazu extrem unterentwickelten Hoden hatte. Dieses Wissen und auch die jetzt endlich einsetzende (Mini-)Pubertät stürzten ihn in Panikvorstellungen. Er verfiel in derartig psychotische Zustände, dass der Therapieerfolg stockte. Umso intensiver suchte Dr. Julia Rüsch nach einer Möglichkeit, seine Hoden trotz allem zu retten. Ein Kinderarzt empfahl die Gabe von Pregnyl, damit die Hoden selbst Testosteron produzieren konnten. Pregnyl ist ein Hormon, medizinisch gesprochen ein humanes Choriongonadotropin, das während der Schwangerschaft in der Plazenta (Mutterkuchen) gebildet wird und für die Erhaltung der Schwangerschaft verantwortlich ist. Von außen zugeführt, löst es bei Frauen den Eisprung aus, während es bei Männern zur Bildung von Testosteron in den Hoden führt. Testosteron wird bei Männern eben zum größten Teil in den Leydigischen Zwischenzellen im Hoden produziert. Die Nebennierenrinde bildet nur in sehr geringem Maße Testosteron. In diesem Fall einer biologischen Notwendigkeit ist ein bedeutender Eingriff der Medizin durchaus vertretbar. Zu verurteilen hingegen ist eine Medikation gegen biologisch nicht richtiges Verhalten. Die Pregnyl-Behandlung bewirkte, dass beide Hoden von Felix P. zu normaler Größe nachwuchsen.
Felix P. ließ mit zahlreichen Veränderungen aufhorchen. Seine Sprache verbesserte sich, er widmete sich sexuellen Themen, er verspürte den Wunsch Frauen zu hofieren und er entwickelte den Ehrgeiz selbst sein Essverhalten zu kontrollieren. Aufgrund regelmäßiger Laborkontrollen wurde darüber hinaus die Normalisierung seines Hormonhaushaltes offensichtlich. Weiters zeigte sich, dass sein geistiger Zustand desto klarer und sein Willen desto stärker wurden, je höher sein Testosteronspiegel war. Ebenfalls war erkennbar, dass ein schlechter Gemütszustand den Testosteronspiegel wieder verminderte. Das Flügge-Werden bzw. die Emanzipation von seinen Eltern bedeutete nach der jahrelangen "Gefangenschaft" und Abhängigkeit eine riesige psychische Anstrengung für ihn. Während er zum Vater sporadisch Kontakt hatte, so herrschte nunmehr zu seiner Mutter totale Funkstille. Der Konflikt mit seiner Mutter machte ihm sehr zu schaffen, denn einerseits wollte er den Kontakt, andererseits verstörte ihn der Gedanke, dass seine Mutter ihn besachwaltern lassen wollte.
Verreisen vor dem Damoklesschwert Sachwalterschaft
Ehrgeizig verfolgte er dennoch sein Ziel, sich operieren zu lassen, in der Hoffnung als erwachsener Mann wahrgenommen zu werden und beweisen zu können, dass er durchaus fähig ist, alleine zurechtzukommen. Die vorsichtige Dosierung von Erythropetin (EPO) führte dazu, dass sich die Testosteronproduktion erhöhte und er immer mehr Sportarten ausüben konnte. Klettern, Wandern und Radfahren standen regelmäßig auf dem Programm. Als ein halbes Jahr später die lebensfördernde Hodenoperation, die Herabsenkung der Hoden von der Leiste in den Hodensack, durchgeführt wurde, wog Felix P. 59 Kilogramm. Weitere sechs Monate später produzierte er die notwendigen Hormone sogar selbst, die Hormonansteuerung im Hirn funktionierte, alles ohne medikamentöse Unterstützung. Nach diesem ersten Erfolg und den erstaunlich guten Ergebnissen der Behandlung galt es seine Betreuung schrittweise zu reduzieren. Dies führte zwar wieder dazu, dass er etwas zunahm, aber er meisterte sein Leben passabel. Felix P. hatte binnen knapp 2 Jahren mehr erreicht und erlernt als in den 18 Jahren an der Seite seiner übervorsorglichen Mutter.
Diese hatte aber ihr Ziel, ihren offenbar einzigen Lebensinhalt, die Betreuung von Felix P. gegen dessen Willen wieder zurückzugewinnen, nicht aus den Augen verloren. Anstatt sich über die Erfolge und Fortschritte ihres Sohnes zu freuen, strebte sie weiterhin an, Felix P. besachwaltern zu lassen und ihn so wieder an sich zu binden.
Um den Bestrebungen und den permanenten Belästigungen seiner Mutter zu entkommen, plante Felix P. eine ausgedehnte Auslandsreise mit seinem Trainer. Als er eine Woche vor der Abreise morgens das Haus verlassen wollte, standen eine Richterin, ein Gutachter und ein weiterer Herr, der sich als sein einstweiliger Sachwalter vorstellte, vor der Türe. Sie hielten ihm vor, nicht bei Gericht erschienen zu sein, und setzten ihn derartig unter Druck, dass er schließlich einwilligte, sofort das Erstellen eines Gutachtens über sich ergehen zu lassen. Solcherart in die Mangel genommen, wurde Felix P. zu teils sehr persönlichen Dingen befragt und gab aus Nervosität und Angst manche unpassende oder falsche Antwort.
Dennoch reiste er mit 2 Begleitern ab. Er genoss die Eindrücke des fremden Landes. Nach 3 Tagen reiste der erste, nach 2 Monaten der zweite Begleiter zurück. Felix P. jedoch dehnte seinen Aufenthalt aus. Er hatte eine Familie kennen gelernt, bei der er leben konnte und wollte noch nicht zurück. Die Mutter jedoch ließ in ihrem krankhaften Bemühen nichts unversucht, um den entlaufenen Sohn wieder zu sich zu holen. Nachdem sie seinen Aufenthaltsort ausgeforscht hatte, schickte sie die Schwester von Felix P. Vater, die im Streit miteinander liegen, sowie ihren ehemaligen Lebensgefährten los, um den Verreisten heimzuholen. Das gelang schließlich, indem die Tante ihrem Neffen erfolgreich ein schlechtes Gewissen seiner Mutter gegenüber einredete.
Aufgrund unzähliger Briefe der Mutter an das Gericht wurde in der Zwischenzeit dem Antrag auf Besachwalterung stattgegeben, obwohl mehrere fachärztliche Gutachten dafür keine Notwendigkeit sahen.
Felix P. lebte seither wieder bei seiner Mutter. Er wurde sicher außerordentlich intensiv und umfangreich betreut. Ob er das wollte und ob er damit glücklich war, bleibt leider nicht offen. Was auch immer ihm in den 14 Monaten nach seiner Heimkehr widerfahren ist, sicher ist, dass er es nicht selbst entschieden hat. Zuletzt suchte seine Mutter ein Heim für ihn – etwas, was er im Leben am meisten fürchtete.
Felix P. starb am 6.10.2011 im Alter von 22 Jahren.
Foto 1: Felix P.
Foto 2: Felix P. bei der Tanz-Therapie
Foto 3: Felix P. zur Zeit seiner Hodenoperation in seinen alten Kleidern
Foto 4: Felix P. auf der Reise
Fotos: Jakob Winkler
Akos Kötö
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