In Amerika sind sie bereits seit Langem eine Realität: Mütter, die ihre Töchter durch diverse Casting-shows schleppen, um aus diesen in kürzester Zeit eine neue Angelina Jolie oder Madonna zu machen. Es gibt kein zu frühes Alter dafür. Am besten beginnt man ab dem Zeitpunkt, an dem das Kind das Laufen erlernt hat. Während sich die Gesellschaft dagegen auflehnt, dass Kinder ihrer Kindheit beraubt werden, wenn diese mit 15 Matura machen und nebenbei Vorlesungen an der Uni besuchen und dies aus ihrem eigenem Interesse, scheint es hier keine gesellschaftlichen Berührungspunkte zu geben. Denn Brad Pitts und Angelina Jolies kann man nie genug haben. So bringt Werner Sobotka mit seiner Inszenierung des Musicals nach Jule Styne, „Gypsy“, das Thema der mütterlichen Verwirklichung der eigenen Träume und Wünsche durch ihre Kinder auf satirische Art und Weise zur Diskussion. Einen Punkt im Stück setzen zwei Sätze, die Mutter und Tochter zueinander sagen: „Für wen habe ich das dann getan?“, so Rose (genial und emotional von Maria Happel gespielt) zu ihrer Tochter Louise (authentisch und stimmstark von Lisa Habermann). „Ich dachte, du hast es für mich getan...“, so Louise.
Am Beginn zeigt sich Rose als fürsorgliche Mutter, die für ihre Kinder nur das Beste will. Ihr Talent ist Überzeugungskraft und Durchsetzungsvermögen. Es gibt nichts, was sie nicht erzwingen kann. Sobald die Töchter June und Louise mit einer unscheinbaren Nummer Erfolg haben, da alle von dem Charme und der niedlichen Stimme von June begeistert sind, wird Rose von den Nebenerscheinungen des Erfolgs infiziert. Sie genießt die Begeisterung des Publikums, und nicht einmal armselige Lebensverhältnisse und das Heranwachsen beider Töchter zu jungen Frauen bringt Rose zu Vernunft. Scheinbar glücklich mit der Situation, strahlt sie ihre Freude auf ihre Umgebung aus. Doch niemand in ihrer Umgebung ist glücklich.
June träumt davon, mit „Baby June“ endlich Schluss zu machen, denn aus der Rolle ist sie schon längst herausgewachsen und es wurde in ihr auch das Talent für eine schauspielerische Karriere entdeckt.
Louise lebt im Schatten des Erfolges ihrer Schwester June, fühlt sich nicht weiblich und wird von den Männern ausschließlich als ein Freund und nicht als Frau wahrgenommen. Erstaunlich ist, dass Louise trotz des Verhaltens der Mutter ihr gegenüber, welche sie eindeutig als zweitrangig behandelt und June ihr vorzieht, wobei dies bereits damit beginnt, dass June als Kind im Bett von Rose schlafen durfte (mit dem Vorwand, sie hat am Tag viel gearbeitet) und Louise nicht (obwohl Kinder von den Müttern gleich, egal was diese geleistet haben, zu behandeln sind), Louise keine Eifersucht June gegenüber äußert und beide Geschwister zueinander stehen. Louise hat auch eine gesunde Einstellung dazu, was sie kann und was sie erreichen kann. Sie ist nicht realitätsfremd wie ihre Mutter. Auch June ist realistisch und nicht träumerisch fanatisch.
Die vermeintliche Liebe der Mutter legt beiden jungen Frauen und gleich auch jedem, der in den Umkreis von Rose kommt, Ketten an. Jeder fühlt sich einsam und gezwungen zu fliehen. So läuft June einfach davon und hinterlässt einen trockenen Abschiedsbrief. Herbie (genial von
Toni Slama gespielt) ist unsterblich in Rose verliebt, muss sie allerdings ebenfalls verlassen, als er merkt, dass es bei ihr keinen Platz für ihn gibt, so verliebt ist die Frau in sich selbst und ihre Gier nach Erfolg.
Als eine Burlesque-Tänzerin abspringt, schiebt Rose ihre Tochter Louise in den Abgrund und macht aus ihr eine Burlesque-Tänzerin. Wenn es bei einer Tochter nicht gelungen ist, kann sie doch bei der zweiten groß abräumen. Louise findet in ihrer Lage jedoch einen Ausweg aus ihrer Zwickmühle. Sie wird gefragt, das Publikum liebt sie, sie findet Gefallen an dem, was sie macht, die Scham ist weg. Sie führt ein scheinbar glückliches Leben abseits ihrer Mutter, die sie nicht mehr benötigt, in Gold und Silber gehüllt, von einem Pressetermin zu einem Fototermin eilend. Doch ist sie es tatsächlich? In der Tat weiß Louise, welche bodenständig ist, dass es nur eine Scheinrealität ist und sie nie ihr Glück so finden kann, auch weiß sie, dass Schuld an ihrem Unglück ihre Mutter ist, doch hat sie endlich einmal in ihrem Leben ein Leben, in welchem sie im Mittelpunkt steht und wo sie selbst entscheidet, wo es langgeht, egal, wie falsch es ist, und wobei nicht ausschließlich der mächtige Finger ihrer Mutter über sie erhoben wird.
Ein gesellschaftlicher Verfall, ein Glück im Unglück, serviert mit genialen Stimmen und bezaubernder Musik.
vs
Fotos: Barbara Pálffy/Volksoper Wien