02.07.2010 |
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Kafka, ein Genie des Verrückten
OPER UNTERWEGS präsentiert „Der Jäger Gracchus“. Vom 27.06 bis 03.07 ist das Stück in der Expedithalle der hundertjährigen Ankerbrotfabrik zu bestaunen.
Was erwartet man von einer Theateraufführung, die sich von einer Erzählung Franz Kafkas ableitet? Viele kennen Werke wie „Die Verwandlung“ oder „Der Prozess“ und wissen, dass dieser Autor vor allem Geschichten jenseits der Realität verfasst hat. Die Besucher sind somit bereits auf einen eigenartigen Abend gefasst, und doch schafft es die Inszenierung, jede Vorstellung zu überbieten.
Schon die Eintrittskarte zu „Der Jäger Gracchus“ erweckt Neugier. Das Ticket ist mit einer vierstelligen Zahl versehen, die von einer unbekannten Stimme willkürlich aufgerufen wird und somit jedem individuell den Eintritt gewährt. Manche sitzen belustigt, andere nervös oder auch einfach nur gespannt in einem Vorraum. Jeder Besucher tritt einzeln hinter die Kulisse ins Ungewisse. Man bahnt sich seinen Weg durch eine andersartige Welt. Von Raum zu Raum begegnet man neuer Faszination, seien es die Darsteller, die durch kleine Taschenlampen, Handbewegungen oder Geflüster jedem einzeln die Richtung weisen oder der Duft der imposanten Tannen, welche Teil des Bühnenbildes sind. Man wird von einem Ober an eine riesige Tafel geführt, wo etwa 120 Besucher innerhalb kurzer Zeitintervalle Platz nehmen. Nachdem das Publikum perfekt eingestimmt ist, beginnt „Der Jäger Gracchus“.
Die herrschende Stille wird durch Mädchengekicher unterbrochen. Sieben feenartige Gestalten spielen in ihren aus Papier angefertigten Kleidern. Sie setzen sich vorübergehend zu den Zusehern an die Tafel. Doch sind sie unerwünschte Geschöpfe in der Gesellschaft und werden permanent von den Erwachsenen verscheucht.
Der Jäger Gracchus tritt auf die Bühne, suchend blickt er um sich. Bis er vom Bürgermeister entdeckt wird, welcher ihn bereits erwartet hat. Dass ein Toter ihn besuchen käme, wurde ihm zuvor schon von einer Taube angekündigt. Doch will er noch mal aus dessen Mund erfahren, wie seine existentielle Situation tatsächlich aussieht. So antwortet ihm der Jäger Gracchus: „Vor vielen Jahren, es müssen aber ungemein viel Jahre sein, stürzte ich im Schwarzwald - das ist in Deutschland - von einem Felsen, als ich eine Gemse verfolgte. Seitdem bin ich tot.“ Jedoch hat sich sein Kahn, der in ursprünglich ins Jenseits bringen sollte, verirrt und seitdem befährt er stattdessen die irdischen Gewässer.
„Der Jäger Gracchus“ erzählt von Lebenden, die innerlich Tod sind, und von einem Toten, der hellauf lebendig wirkt. Er leidet unter dem Umstand, dass er nie zur Ruhe kommt, weder im Jenseits noch im Diesseits angekommen bzw. geblieben ist. Der Handlungsort ist Riva, in dem die Einwohner wenig hinterfragen, sonder einfach nur existieren und das Leben hinnehmen ohne Ausschweifungen aus der gewöhnlichen Norm.
Inszeniert wurde „Der Jäger Gracchus“ von Helga Utz, die 2009 die OPER UNTERWEGS gründete. Ihre Liebe zum Detail ist in „Der Jäger Gracchus“ förmlich zu spüren. Die Schauspieler zeigen Meisterleistungen. Vor allem glänzt der junge Martin Hemmer in der Hauptrolle als Jäger Gracchus. Leidenschaftlich spielt er diesen und lässt keine Zweifel an den Höllenqualen, die er durchlebt, beim Besucher entstehen. Auch Jan Konieczny spielt seine Rolle des Kahnführers ausgezeichnet. Passend zur Atmosphäre des Stückes wurde von Olga Neuwirth die untermalende Musik komponiert.
Eine wunderschöne Aufführung, obwohl manche Fragen durch die Inszenierung unbeantwortet bleiben. Ein Beispiel dafür ist, dass fast alle Frauen, bis auf die Kinder und die vorkommenden Touristen, schwanger sind. Doch bleibt offen, welche tiefere Bedeutung sich dahinter verbirgt. Aber auch der Sinn von den Touristenführern, die in fremden Sprachen durch den Wald führen, wobei dem Wald wenig Aufmerksamkeit gewidmet wird, bleibt reine Interpretation. Das Szenarium der Touristenführer ereignet sich gegen Anfang und zum Schluss hin noch einmal. Bei der zweiten Führung ist sowohl der Text als auch jede Handbewegung dieselbe, doch zwischen dem für den Zuseher unverständlichen Gebrabbel wird plötzlich das Wort „Gerechtigkeit“ eingefügt. „Der Jäger Gracchus“ lässt unendlich viel Raum zur Eigeninterpretation, was einerseits die Phantasie anregt, doch andererseits Verwirrung hinterlässt.
(ik)
Fotos: Michele Joerg-Ronceray