Man betritt die Halle und es kommt zu einer Schrecksekunde: Zirkusleute hüpfen mit struppigen Haaren und völlig verschnittenen Dreadlocks herum wie eine bekannte Psycho-Metal-Band. Im Parkett wuchten sich einem breite Sitzreihen entgegen, die großflächig mit schwarzem Tuch überdeckt, also leer sind. Doch Verstörung vorbei, der drollige Zirkusdirektor schlendert in einem gelbem Overall mit einer grünen Schürze herum und holt die Stimmung aufs Burleske. Und eine Figur in rosa Satin heißt die Zuschauer in akzentfreiem Deutsch willkommen und verkündet die Verbote: u. a. nicht blitzen, denn: „Foto flash – Artisten-Crash!“ Auf der Arena und tummelt sich ein buntes Völkchen, dessen allegorische (= bildhafte Darstellung eines abstrakten Begriffs) Bedeutung erst nach der Lektüre des Programmheftes zu erschließen ist: Es soll die Vielfalt der Typen einer Großstadt personifizieren, z. B. den Kavalier, den Witzbold, die Bürokraten etc. Auf dieser 2. Ebene von Saltimbanco, einer älteren Produktion von Cirque du soleil, wünschte man sich auch öfters verständliche Worte statt mischsprachliche unverständliche Lautbrocken. Die theaterhaften Elemente zeichnen sich vor allem durch ihren ebenso bunten (Hauptfarben Blau- bis Gelbgrün und Zinnoberrot bis Magenta) wie stilsicheren (z. B. der Baron: schwarzer Zylinder über weißer Halskrause und zebragestreiftem Poncho) Reichtum aus. Weniger klar ist oft, was für eine szenische Rolle diese Figuren denn eigentlich ausüben. Im Reigen der artistischen Zirkus-Nummern fallen einige recht konventionell unterhaltsam aus wie der Jongleur mit 7 Bällen oder die Solo-Tänzerin aus einem Körper wie Knetmasse. Sind es Nummern wie diese, die schön vertraut, aber etwas angestaubt anzuschauen sind, denen sich die leeren Plätze u. a. verdanken?! Zum Großteil freilich wird das Publikum in eine Welt von Höhenflügen der Artistik und Akrobatik entführt, die auf einem Tableau von Kostümen, Farben und Musik präsentiert wird. Der erste Höhepunkt baut sich aus Ballett-Akrobatik auf: In grünroten Ganzkörperanzügen kriechen 16 Echsenmenschen über die Bühne, bevor sie sich an Stangen hochhanteln. Ihr Chef schafft es, sich allein mit anwinkelten Armen hinaufzuschrauben. Es folgen beeindruckende lebende BiIder und Choreografien der Gruppe: mal wie drohende Demonstranten, mal wie tänzelnde Fabelwesen. Originell auch der Clown Eddie, der Turn-Geräte wie Springschnur und Ball oder das „Absaufen“ in einer Klo-Muschel allein durch technisch und onomatopoetisch, also stimmlich, nachgemachte Geräusche und Gesten zum Aufleben bringt. Punktgenau holt sich ein Scheinwerfer eine Person aus dem Publikum, mit der sich Eddie einen neckischen pantomimischen Dialog liefert. Viel Allzumenschliches wie Furzen kommt vor, löst jedoch keine Lachstürme aus. Den wenigen Kindern und Jugendlichen unter den Zuschauern nimmt diese Gefahr, plötzlich aus der anonymen Masse herausgefischt zu werden und ohne Vorwarnung im Rampenlicht zu stehen, die Lust am unbeschwerten Lachen. Es bleiben die plastisch-grellen, wenngleich kinderfreundlicheren Sketches, wie sie ein Konkurrenz-Zirkus mit zweifelhaftem Können bringt, aus. Der Schauplatz wechselt zu 2 Athleten, die Körperstellungen mit extremer Kraft zelebrieren. Dazu verbinden sie ihre Körper auf kleinsten Angelpunkten, so als einer mit seinem Nacken nur auf den Nacken des anderen gelagert eine Kerze macht.
Eddie macht erwachsene Zuschauer zu Mitspielern
Nach der Pause katapultieren sich Artisten von einer russischen Schaukel in den Himmelsraum, bevor sie nach mehrfachen Salti ohne Wackeln auf dem Auffangdiwan oder auf einem Drahtseil eine Punktlandung stehen. Saltimbanco heißt denn ja wörtlich: auf die Bank hüpfen. Hier möchte der Zuschauer noch einmal und noch einmal hinauf in den Raum schießen, so vital überträgt sich die Aufhebung der Schwerkraft. Zugleich hat der an Zeitlupenwiederholungen gewöhnte Fernsehzuschauer Mühe, dem Bewegungsfeuerwerk detailliert zu folgen. Einige Schreckmomente gibt es, als manch ein Artist bei der Landung einen halben Meter zur Seite knickt. Die Perfektion zeigt Haarrisse. Und die 5-köpfige Kapelle, die gelegentlich Anleihen bei Melodien bekannter Hits nimmt, hat (zu sehr) an Lautstärke zugelegt. Das in höchster Stimmlage gesungene „Il sogno di volare“ windet sich dann hinauf zu 2 Trapezartistinnen, bei deren ruhigen Sprüngen und Salti man am liebsten noch eine Stunde lang zusehen möchte. Zirkus-Poesie in seiner traumhaftesten Form. Rasanter fliegt ein Quartett an Bungee-Seilen Synchron-Figuren in den Äther zwischen dem Boden der Besitzlosen und den Wolkenkratzern der Reichen und Mächtigen. Die ebenso strengen wie federleichten Bewegungen lassen einen Österreicher kurz an die Kunst der Lipizzaner denken. Am Boden findet Eddie einen kongenialen Mit-Spaßmacher aus dem Publikum, der ihm beinahe die Show stiehlt. Besonders dieser ca. 50-jährige, leger gekleidete Zuschauer lässt in seinem coolen Verhalten die Vermutung aufkommen, er wäre auf diesen spontanen Auftritt schon irgendwie vorbereitet gewesen. Wie überhaupt die vorauseilenden Kommentare im Publikum darauf schließen lassen, hier wäre ein eingeschworenes Stammpublikum anwesend, das sich seine Unterhaltung auch die teuren Preise kosten lässt. Schließlich muss eine Unterhaltungsfirma wie Cirque du soleil bei seinen weltweit 5000 Angestellten, darunter 1200 der weltbesten Akrobaten, für die nötige finanzielle Abfederung der Phantasie-Maschinerie sorgen.
Eine exzellent gestylte, durch einen angedeuteten Großstadt-Dschungel wirbelnde Aufführung, die nie in überbordenden Wulst ausschweift, sondern ihrem etwas kühlen frankokanadischen Charme vertraut. Um die allegorische Klammer heranzuziehen: Würden die Großstadt-Menschen tatsächlich ihre Konflikte in einer aufgelockerten Sinnenwelt austragen wollen statt in Straßenschlachten – in Saltimbanco hätten sie ein Vorbild an Versöhnung, das Mut macht und Vorfreude spendet.
WaHo