Klassiker des Monats Juni
Er verführt die Herzen aller Frauen, er spielt mit ihnen, er kann jede haben, und doch ist er im Grunde ein unglücklicher Charakter. Anatol ist ein typischer Wiener des Fin-de-siecle, der den Tag genießt und nicht an die Zukunft denken will und kann. Carpe Diem ohne richtige Lösung.
Arthur Schnitzlers Werk „Anatol“ steht immer im Schattendasein seines „Leutnant Gustl“ und der „Traumnovelle“, die durch die Verfilmung „Eyes Wide Shut“ mit Tom Cruise und Nicole Kidman einen weltweiten Erfolg feiern konnte. „Anatol“ ist anders. Es ist ein so genannter Einakter-Zyklus - jede Szene steht für sich alleine und zeigt einen Augenblick im Leben des Frauenhelden Anatol um 1900. In jeder Geschichte geht es um eine Frau, die allerdings austauschbar ist, um die Anatol buhlt, deren Treue er erwartet, mit der er Schluss machen will, oder die ihm sein Glück zerstören kann. Jede dieser Frauen scheint Anatol abgöttisch zu lieben oder geliebt zu haben, aber er vertraut keiner von ihnen. Noch während sie ihm die ewige Treue schwören, ahnt er schon einen Treuebruch, obwohl noch gar nichts passiert ist. „Es gibt manches Glück, das mit dem ersten Kuss zu sterben begann“, sagt sein Freund Max, der ihm immer treu zur Seite steht, während die Frauen kommen und gehen.
Der Mann verliert an Macht und die Frau wird zum dominanten Part in dieser Geschichte. Auch wenn die Damen Anatol zugetan sind, werden sie von Episode zu Episode eigenständiger. So möchte Anatol die Beziehung zu Annie beenden, weil er sie schon längst mit einer anderen betrügt. Doch sie kommt ihm zuvor, da auch sie sich erneut verliebt hat! Der verletzte Stolz des Anatol trägt komische Früchte. Er will die Beziehung lenken und die Macht behalten, ansonsten wird er bockig und verhält sich wie ein kleines Kind. Anatol fürchtet sich vor dem Kontrollverlust und kann sich daher auch nicht wirklich auf eine Frau einlassen, wodurch am Ende nur die Melancholie übrig bleibt. Das famose Finale am Morgen von Anatols Hochzeit zeigt, dass es am Ende kein Happy End für diesen Frauenfreund geben kann.
Anatol lässt sich einfach lesen - man genießt die flirtenden Damen, die koketten Reden und die leicht philosophisch angehauchten Gespräche der Männer. Flott geht es von Geschichte zu Geschichte, wodurch keine Zeit bleibt, Langeweile aufkommen zu lassen.
Lohnenswert, humorvoll, aber mit einem leicht bitteren Beigeschmack.
(dw)