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Mit 100 Euro Lohn und 200 Euro Miete - Überlebenscamp Ukraine heute
16.05.2012
Julia Timoschenko, die Ex-Regierungschefin von Ukraine, sitzt in einer Frauenhaftanstalt in Kiew ihre Strafe ab bzw. wird sie derzeit in einem Krankenhaus behandelt. Damit liefert sie seit Monaten Schlagzeilen für viele österreichische Zeitungen. Wieder mal ist die Ukraine schlecht aufgefallen. In meinem Kopf sind noch die Erinnerungen an ein Bild in der Kronen Zeitung wach: Es zeigte eine parlamentarische Sitzung in Kiew, bei der frische Eier durch den erlauchten Sitzungssaal flogen. Absurd und lächerlich und gleichzeitig traurig. Heuer hätte die Ukraine die Chance gehabt, sich von einer demokratisch reifen Seite zu zeigen und sich womöglich einen Platz in der EU zu sichern. Denn die Ukraine ist heuer neben Polen Gastgeberin der Fußball Europameisterschaft (EM) 2012. Stattdessen strotzen die Zeitungen von negativen Berichten rund um die äußerst fragwürdige Haft von Julia Timoschenko. Auf youtube werden Witze über die „Sprachgewandtheit“ des Premierministers Asarov und über die Dummheit des Präsidenten Janukowitsch gezeigt. Tickets für die EM werden nicht verkauft und Deutschland boykottiert das Event.

Dass Julia Timoschenko nicht gesetzlich verurteilt wurde, ist ein Faktum. Das meint auch meine Studienkollegin, die in der Ukraine in einem Ausstellungsbüro arbeitet und mit 24 immer noch bei ihren Eltern wohnt. Ihr erster Lohn hat unter 100 Euro betragen. Die Ursache der Verurteilung der ukrainischen Ex-Regierungschefin hat politische Hintergründe. Als Viktor Janukowitsch, ein überzeugter Russen-Anhänger wieder an die Macht gekommen ist, hat er angefangen „die Wege zu reinigen“. In der Tat wird er von Putin als seine Marionette ausgenutzt.

Die Zeitungsartikel in österreichischen Medien, die über die Situation in der Ukraine  berichten, sind wenig persönlich, sondern mehr oder weniger objektiv und stark von österreichischer Sicht geprägt. Diese Annahme, dass jene Berichte nicht aus der tatsächlichen Wahrnehmung der dortigen Situation stammen, haben sich zu 100 Prozent in meinem Gespräch mit meiner Studienkollegin bestätigt. Yewgenija Timoschenko, die Tochter von Julia Timoschenko, ist beinahe die einzige Ukrainerin, die sich für die Umstände der Verhaftung und die Haft ihrer Mutter interessiert. Denn außer in Kiew finden sonst in keiner Stadt Proteste statt. So äußert sich eine durchschnittliche Ukrainerin: „Ich vertrage keine Politiker“. Wenig Interesse und Wissen zeigt sie zum Thema. Viel mehr kann sie zum Thema Politik in der Ukraine nicht sagen, jedoch viel zum Thema Scheinpolitik.

Die Grundstimmung ist die allgemeine Unsicherheit und Ungewissheit, wie es weitergehen soll. Das Volk ist müde, fühlt sich ständig unterdrückt von allen Seiten. Sogar die Handys werden abgehört. Die Preise sind wie in Europa, die Löhne sind jedoch wie in einem Entwicklungsland. Rechnungen kommen mit den außerirdischen Summen. Wenn man Geld hat, kann man studieren, wenn nicht, geht man in die Lehre oder gleich auf die Baustelle arbeiten. Der Durchschnittlohn beträgt 1000 Griwna (ca. 142 Euro). Ein Ticket von Sumy nach Kiev (die gleiche Strecke wie von Wien nach Graz) kostet ca. 70 Griwna (ca. 10 Euro).  „Günstig“, sagte ich vergleichend mit den Fahrkartenpreisen in Österreich. Und machte damit einen großen Fehler. Denn in der Relation zum Lohn in der Ukraine ist eine Fahrt von Sumy in die Hauptstadt für einen durchschnittlichen Ukrainer ein Luxus. Mich beschäftigte dann noch die Frage, wie schafft man es denn bei einem Lohn von 100 Euro eine Miete von 130 Euro zu bezahlen. Die Lösung sind die Patchwork-Familien.

Über die politische Situation, über Asarov, den heutigen Regierungschef der Ukraine, und Präsident Janukowitsch gibt es auf youtube sehr aussagekräftige Videos, in denen sich beide öffentlich im Parlament blamieren.

Das Leben in der Ukraine war noch nie ein Honiglecken. Als Timoschenko als Regierungschefin an der Macht war, war das Leben jedoch spürbar leichter. Zumindest im sozialen Bereich, da sie unter anderem die Studenten unterstützt hat. Wurde sie tatsächlich aus wirtschaftlichen und nicht aus rein politischen Gründen verhaftet?

Die Scheinpolitik und die Scheinordnung in der Ukraine sind sogar bei den Vorbereitungen zur EM 2012 ans Tageslicht gekommen. Bleiben sie jedoch ausschließlich dem Auge eines Insiders ersichtlich? Zumindest beschreiben die Zeitungen in Österreich nicht, wie peinlich es ist, in der Ukraine eine EM zu veranstalten. Für den Empfang der Ausländer wurden die Bänke in der U-Bahn gewechselt. Dafür wurden 3 Millionen Griwna ausgegeben! Wobei, wenn man sich die nicht gepflasterten Straßen, die wohl als Erstes auffallen werden, anschaut, wird man nicht mehr vom Anblick der Bänke in der U-Bank umfallen. Die Plakate auf Englisch sind mit lächerlichen Fehlern, da hier kein Geld in die ausgebildeten Dolmetscher investiert worden ist. Alles nur irgendwie, ein oberflächlicher schöner Schein und darunter die nackte Unordentlichkeit.

Ein Kollege zeigte mir ein Foto von Julia Timoschenko in der Haft. Er meinte, so luxuriös lebt kein österreichischer, nicht mal ein prominenter Häftling. Er sah in dem Brillenetui, das auf einer Abbildung bei der Berichterstattung über Julia Timoschenko abgebildet wurde, eine IPhone-Schutzhülle. Ich wäre auch damit solidarisch. Als Außenstehender nimmt man eine Seite einer Geschichte wahr. Eine Ukrainerin beschäftigt sich eher wenig mit solchen Geschichten. Man spart Zeit und Kräfte, um zumindest 100 Euro für die Mieten zu verdienen… Politik ist für die meisten UkrainerInnen heute Luxus.

Varvara Shcherbak

Foto: Harald Dettenborn

die-frau.at